Die Familie F. baut einen Hühnerstall.
Geschrieben im Februar 2001

1938 waren mein Vater siebenunddreißig und meine Mutter achtunddreißig Jahre alt, mein Bruder Herbert sieben und ich, Ewald, neun. Wir wohnten im Hause meines Großvaters väterlicherseits, eines Kleinbauern, der tagsüber zehn Stunden lang in einer Bekleidungsfirma als Bügler arbeitete, mit schweren 'Plätteisen' und glühenden Bolzen, die ihm ein Heizer anreichen musste. Die Landwirtschaft erledigte er 'nebenbei', in den Sommermonaten ab vier Uhr morgens und an den Wochenenden. In der Erntezeit aber mussten alle Familienmitglieder helfen.

Die Großeltern hatten sechs Söhne und eine Tochter. Nur diese durfte etwas lernen, den Beruf einer Näherin. Die Söhne mussten zur Ernährung der Familie beitragen, als sie, vierzehn Jahre alt, die Schule verließen. Sie wurden Handlanger, danach Hilfsarbeiter und schließlich Arbeiter in verschiedenen Fabriken, mein Vater zunächst in einer Tischlerei. Als er im Alter von siebenundzwanzig Jahren meine Mutter kennenlernte, wollte er möglichst schnell viel Geld verdienen für die Gründung eines Haushaltes. In einer Kohlenzeche des Ruhrgebietes wurde er Wagenschieber, tausend Meter unter der Erde. Jedes zweite Wochenende kaufte er sich eine Fahrkarte für die Reichsbahn. Meine Mutter aber wollte ihn häufiger sehen. Sie holte ihn persönlich zurück und bat ihn, wieder zu tischlern. 1928 konnten sie heiraten und Vater wurde auch ohne Prüfung ein von seinen Chefs und den Kollegen anerkannter Tischler mit besonderen Fähigkeiten. Das schrieb man ihm sogar in die Zeugnisse.

1938 hatte mein Vater für die schon genannten vier Personen zu sorgen, als Alleinverdiener mit einem Stundenlohn von etwa 1,50 RM brutto, soweit ich mich erinnere. Dazu fuhr täglich mit einem aus alten Teilen zusammengebauten Fahrrad etwa 10 Kilometer zur Arbeitsstelle, im Sommer und im Winter. Er war das anerkannte und von uns Kindern bewunderte Oberhaupt der Familie. Wieviel Stunden mag er täglich, wöchentlich, monatlich gearbeitet haben? Waren es 9, 50 einschl. samstags, 200?. Im Sommer hatte er trotzdem noch Zeit für den Garten zur Selbstversorgung mit Gemüse und Früchten (Thema unter Nachbarn: wer hat die dicksten Kartoffeln?), und im Winter außerdem für Basteleien, 'Erfindungen' und Reparaturen.

Unsere Wohnung im Hause der Großeltern lag im Obergeschoß. Die einzige 'Wasserstelle' befand sich im Erdgeschoß. Notwendiges Utensil für die kleineren 'Geschäfte' war ein Nachttopf, der im Schlafzimmer stand und zur Entleerung morgens nach unten und dann noch etwa vierzig Meter weit bis zu einem 'Plumpsklo' am Endes des Stalles getragen werden musste. Darin wurde von allen Hausbewohnern ein Teil des Düngers für die Landwirtschaft erzeugt.

Alle Hausfrauen in unserer Nachbarschaft hatten damals noch Waschtage, im Abstand von zwei bis vier Wochen. In unserer 'Waschküche' (dort wurden auch die Schweine geschlachtet) stampfte meine Mutter die Wäsche in der Lauge mit einer 'Waschglocke'. Herbert, bald acht, und ich, bald zehn, mussten helfen. Mutter schwärmte von einer Waschmaschine der Firma Miele mit Holzbottich und Handantrieb. Eine solche mit Motor kam nicht einmal in ihren Träumen vor, obwohl sie schon einen Staubsauger von Miele besaß, der in kleinen Raten bezahlt werden musste.

Die Wäsche wurde im Freien auf der Leine getrocknet. Allgemein bekannt war, dass manche Nachbarinnen diese genau 'beäugten', wegen der Sauberkeit, und die einzelnen Stücke zählten, um Fleiß und 'Wohlstand' der Wäscherin sowie der zur Wäsche gehörenden Familie festzustellen.

Herbert, einige Kinder aus der Nachbarschaft und ich waren besonders stolz, wenn wir genügend Papier und Holzstäbe organisiert hatten, um in den Sommermonaten daraus unsere Drachen zu bauen. Als Klebstoff benutzten wir eine Mischung aus Mehlbrei und gekochten Kartoffeln. Wenn es nicht regnete und der Wind nicht zu stark war, hielt dieser Kleister die Drachen ziemlich lange in der von uns geplanten Form. Immer aber hatten wir Probleme mit den Schnüren. Die waren zu schwach, wenn wir uns aus den Nähkästen der Mütter bedienten, oder zu schwer, wenn wir es mit Großvaters Bindegarn für Getreidegarben versuchten. Im ersten Fall stiegen unsere Drachen rasant nach oben und zerrissen die viel zu schwachen Fäden, im zweiten erhoben sie sich wegen des Gewichts der Schnüre selten und nur kurz ein paar Meter über den Boden. Trotzdem versuchten wir es immer wieder. Wir waren zäh und Optimisten.

Wenn unsere Mutter Pläne für Vater hatte, sagte sie nicht: Richard, bitte mach dieses oder jenes. Das war nicht sehr erfolgreich. Sie wählte in diesen Fällen meist die kluge Frageform: Richard, kannst du vielleicht dieses oder das machen? Dabei betonte sie das 'kannst du' in einer Weise, die Zweifel verdeutlichen sollte. Das hatte noch immer geholfen. Vater bewies dann, dass er es konnte.

Eines Tages fragte Mutter ihn: Kannst du eigentlich einen Hühnerstall bauen? Dann brauchten wir keine Eier zu kaufen. Ich könnte dir täglich ein gekochtes mitgeben zur Arbeit, und die Kinder könnten wir auch besser ernähren...

Vater antwortete, daran hätte er auch bereits gedacht. Schon lange! Aber wer bitte sollte das bezahlen, das Holz für Wände und Dach, das Glas für die Fenster und die Teerpappe als Schutz gegen Regen und Schnee? Und dann die Hühner. Die seien doch sündhaft teuer!

Mutter hatte bereits einiges organisiert, wie immer, wenn sie Pläne für Vater machte. Ein älterer Landwirt in der Nähe lagerte größere Holzvorräte in einem offenem Schuppen, darunter Baumstämme, die zu dünnen Brettern geschnitten waren, mit Rinde, verschieden breit und teilweise auch krumm. Du kannst dir holen, was du brauchst, erklärte sie. Wilhelm hat es im Rücken. Er möchte nur, dass du ihm bald den Roggen mähst... Viel hat er ja nicht...

Also mähte Vater den Roggen für den Nachbar Wilhelm, an einem Wochenende, samstags und sonntags, mit der Hand, und holte sich das Holz für den Hühnerstall. Genauer, wir alle holten es, in einem Handwagen, 'Bollerwagen', wie wir sagten, in mehreren Fuhren. Mutter kaufte drei Glasscheiben, nicht zu groß, und organisierte auch noch ein paar Quadratmeter Teerpappe für das Dach. Nur -- das Holz war 'wie gewachsen', mit Rinde, unbesäumt, wie Vater fachmännisch erklärte.

Ist das ein Problem für dich? fragte Mutter. Sie wusste, wie Vater darauf reagierte. Dann war seine Phantasie als Erfinder grenzenlos! Und in diesem Fall war für ihn der Augenblick gekommen, in dem er wieder einmal eine seiner Erfindungen verwirklichen konnte. Aus einer Handsäge (einem großen Fuchsschwanz) machte er ein rundes Sägeblatt mit einem Loch in der Mitte. In den äußeren Rand feilte er viele Zähne. Als Werkstatt diente ein Teil des Bodenraumes im Hause meines Großvaters. Das Sägeblatt befestigte Vater irgendwie an der verlängerten Achse der Vorderrad-Nabe eines Fahrrades. Für die andere Seite konstruierte er eine Holzrolle, um dort einen Treibriemen anbringen zu können. Diese Teile verband er so mit einer Holzkonstruktion, dass oben aus einem Schlitz nur das Sägeblatt herausragte, etwa drei Zentimeter weit. Alles wurde auf einem alten Tisch befestigt. Die Antriebsrolle ragte seitlich heraus. Wir alle drehten daran und staunten über Vaters Werk. Das Sägeblatt bewegte sich wirklich.... Im Kreis, wie erwartet! Vorwärts und rückwärts. Vater erklärte uns, in welche Richtung wir drehen mussten, damit die Zähne 'greifen' konnten.

Im Handbetrieb brauchten wir anschließend eine halbe Stunde, um in ein dünnes Brett einen etwa fünf Zentimeter langen Schnitt zu sägen. Es (das Sägeblatt) muss sich viel schneller drehen, erklärte Vater. Lasst mich nur machen... Er kannte die Formel und rechnete uns vor: Umfang ist gleich Durchmesser mal 'Pi'. Die Holzrolle an der Fahrradnabe hat einen Durchmesser von vier Zentimetern, das Hinterrad von Ewalds Fahrrad dagegen von siebzig Zentimetern. Eine Radumdrehung bedeutet fast 20 Umdrehungen des Sägeblattes. Das wird genügen. Ewald fährt ja gern Fahrrad....

Nur Mutter bekam Zweifel an Vaters neuer Erfindung. Wir Kinder dagegen nicht. Mein schönes altes Fahrrad wurde aufgebockt, nachdem hinten Gepäckträger, Schutzblech, Decke und Schlauch entfernt waren. Vater schnitt einen Treibriemen so zu, dass er auf die Felge des Rades und die Holzrolle an der Säge passte. Und dann ging es los. Ich fuhr Fahrrad, guckte nach vorn, sah die Hauswand vor mir, durch ein kleines Fenster ein Stück vom Himmel, kam keinen Zentimeter voran und konnte auch nicht sehen, was hinter mir geschah. Dort schob Vater das erste Brett auf den Sägetisch. Mutter und Herbert sahen zu, voller Erwartung und zugleich kritisch. Das Sägen begann - und Vaters Loben und Ansporn: Schneller, noch schneller! Du schaffst es! Nicht aufhören! Es muss Minuten gedauert haben, bis von hinten das erste Brett zu mir herankam, sich unendlich langsam neben mir nach vorn bewegte und schließlich eine gerade Kante hatte. Mir verging die Lust am Fahrradfahren. Ich schwitzte und 'japste', wie Mutter feststellte. Das ist zu anstrengend für ihn, erklärte sie kategorisch. Spätesten beim zweiten Brett bricht er zusammen. Ich werde es versuchen... Dann radelte Mutter, vielleicht zehn Minuten lang, bis das erste Brett auch an der anderen Seite zur Hälfte 'besäumt' war. Es ist unmöglich für uns, sagte sie zu Vater. Wir sind zu schwach. Ich werde das Brett an die Säge halten und du radelst! Vater hatte Zweifel an Mutters Fähigkeiten, die Verantwortung für das Gesamtwerk zu tragen. Schließlich aber strampelte er doch ein paar Minuten und sah manchmal nach hinten, um festzustellen, ob Mutter auch 'auf dem Strich blieb'. Er schien froh zu sein, dass ihr dies nicht besonders gut gelang. Als das erste Brett schließlich mit zwei ungefähr geraden Kanten an der Wand stand und von allen bewundert wurde, konnte Mutter unseren Vater überzeugen, dass mit diesem Antrieb der Kreissäge mehr als hundert Bretter mit einer Länge von etwa von etwa drei Metern niemals entstehen würden.

In den nächsten Tagen konnte ich wieder richtig mit dem Rad fahren. Vater aber dachte nach. Mutter erwartete seine Vorschläge. Mit großem Argwohn beobachtete sie, wie Vater zunehmend ihren fast zur Hälfte bezahlten Staubsauger von Miele betrachtete. So geht es, erklärte er schließlich. Du leihst mir den Motor und ich säge damit die Bretter für den Hühnerstall... Nach drei oder vier Tagen, an denen Vater jegliche häusliche Arbeit verweigerte, willigte Mutter schließlich ein. Vater baute das Motörchen aus. Es war etwa halb so groß wie seine Hand. Er befestigte es unter der Fahrradnabe am Sägetisch. Ein neuer Treibriemen, aus dem alten geschnitten, verband beide. Sogar der Stromanschluß funktionierte irgendwie. Vater überlebte ihn, weil er etwas davon 'verstand'. Dann heulte das Motörchen mit einigen tausend Umdrehungen, und das selbst gebastelte Sägeblatt auf der Fahrradnabe pfiff beängstigend. Es drehte sich rasend schnell und war fast unsichtbar.

Am nächsten Abend sollten die Bretter gesägt werden. Vater nahm das erste und zeichnete hinter der 'Schwarte' einen geraden Strich, auf dem er sägen wollte. Mutter, Herbert und ich sahen aufmerksam zu. Wir bewunderten unseren Ernährer und seine Ideen. Es wird schnell gehen, sagte er. Du, Ewald, stellst dich hier neben die Säge und pustest, damit ich den Strich immer sehen kann.

Und kann ging es los, das Heulen des Motörchens und das Pfeifen des Sägeblattes waren gewaltig. Vater schob das Brett, und ich pustete den Sägestaub zur Seite. Herbert wollte auch pusten. Nur Mutter sah zu und faltete die Hände. Ich wusste nicht, ob sie betete. Trotz des rasenden Sägeblattes mit mindesten dreitausend Umdrehungen in der Minute, wie Vater prahlte, dauerte es etwa eine halbe Stunde, bis das zweite Brett an beiden Seiten besäumt war und zum ersten an die Wand gestellt werden konnte. Mutter schien bereits auszurechnen, wie lange es dauern würde, bis das hundertste dort stand.

Beim dritten Brett wollte Vater beweisen, dass es auch schneller ging. Das Motörchen und das Sägeblatt schienen zu stöhnen, als er dieses Brett schneller vorwärts schob. Ich pustete pflichtgemäß, und Mutter faltete wieder die Hände und hatte Angst. Man sah es an ihren Augen. Ich pustete bald nicht nur Sägestaub, sondern auch Rauch zur Seite. Mutter rief entsetzt: Es brennt!!. Vater aber meinte beruhigend: Ist nur das Sägeblatt... Es wird ein bisschen heiß... Ist aber nicht schlimm...

Irgendwann kurz danach, noch beim ersten Sägeschnitt im dritten Brett, ereigneten sich drei Dinge innerhalb einer Sekunde. Ein Blitz erhellte den Bodenraum. Es knallte gewaltig. Und dann war es still, absolut! Nur wer genau hinhörte, konnte ein leises Knistern und Brummen im Motörchen vernehmen.

Mutter lief weinend die Bodentreppen hinab. Herbert und ich erholten uns nur deshalb langsam von unserem Schrecken, weil Vater Worte verwendete, sehr laut, die wir von ihm noch nie gehört hatten. Mutter weinte den ganzen Abend, auch beim Essen. Wir Kinder halfen ihr dabei. Und Vater verließ die Küche schon bald mit schlechtem Gewissen und leerem Magen.

In den nächsten Tagen rechnete der Lieferant des Staubsaugers aus, wieviel weitere Raten fällig wurden für die Reparatur des Gerätes von Miele, weil nach seinen Worten jemand entgegen den Vorschriften am Motor 'herumgefummelt' hatte. Mutter reinigte ihre Teppiche und Läufer wieder auf der Stange im Freien mit dem Klopfer aus geflochtenem Rohr. Neugierigen Nachbarinnen erklärte sie, der Händler müsse den Motor kostenlos reparieren, wegen der Garantie.

Das Projekt Hühnerstall aber ruhte, bis Vater auf Mutters Drängen den Gang nach 'Canossa', genauer: zum Landwirt Wilhelm, antrat. Wir brachten das gesamte Holz mit dem 'Bollerwagen' wieder zu ihm zurück. Habe ich doch gleich gedacht. Das wird nichts! sagte Wilhelm auf Plattdeutsch, für uns Kinder kaum verständlich. Hättest es einfacher haben können. Wilhelm besaß einen starken zentnerschweren Elektromotor, mit dem er früher eine Dreschmaschine angetrieben hatte, und eine riesige Kreissäge. Das Sägeblatt war so groß wie eine Waschwanne, hatte Zähne wie ein Siebenmeterhai und zerkleinerte große Baumstämme in Minuten. Motor und Säge wurden mit einem etwa zehn Meter langen Treibriemen verbunden, der so breit war wie zwei Hände, mit großer Geschwindigkeit lief und sich etwa in der Mitte zwischen Motor und Säge laut klatschend berührte. In etwas mehr als einer Stunde hatte Vater die Bretter für den Hühnerstall gesägt. Wir luden sie zum dritten Mal auf unseren Handwagen, wieder in mehreren Fuhren. Vater versprach Wilhelm, auch im nächsten Jahr den Roggen zu mähen. Als er diese Zusage erfüllte, sagte er, dass Wilhelm sie 'ausgenutzt' habe...

Wochen später aber war der Hühnerstall endlich fertig. Innen gab es vier Boxen als Legenester, eine Sitzstange und darunter eine Platte mit Teerpappe für den Kot. Außen wurde das Holz grün gebeizt. Viele Nachbarn bewunderten Vaters Werk und machten Pläne, den eigenen Stall noch schöner und besser zu bauen. Ein größerer Auslauf wurde durch groben Maschendraht begrenzt. Besonders stolz war Vater auf seine 'Erfindung', eine Klappe als Hühnertür morgens und abends vom Schlafzimmer aus öffnen und schließen zu können. Von der Klappe führte eine Schnur durch die Zweige eines Obstbaumes hindurch zum Haus. Am Schlafzimmerfenster gab es zwei Nägel. Die Hühnerklappe war geöffnet, wenn die Schnur am unteren befestigt war und geschlossen, wenn der obere Nagel benutzt wurde. Dann fehlten eigentlich nur noch Hühner. Dazu hatte Vater ja bereits gesagt, dass sie sündhaft teuer und unbezahlbar wären.

Mutter besorgte ein paar Küken einer schweren braunen Hühnerrasse, ich meine es waren sechs. Die wurden von uns allen liebevoll mit Küchenabfällen und etwas Korn gefüttert und waren bald sehr zahm. Wir Kinder konnten sie auf den Arm nehmen. Wenn wir sie auf die Teppichstange setzten, die gleichzeitig unserer Turnstange war, und von unten in die Federn pusteten, waren interessante anatomische Studien möglich. Schon 1939, im Frühjahr, aßen wir eigene Eier, jeden Tag, wenn wir es wollten. Monate später aber dienten diese auch als Tauschware. Der Krieg hatte begonnen und die Zuteilung der Nahrung auf Marken. Wir Kinder bestaunten die Kauffrau an der Straßenecke, wenn diese bei jedem Einkauf mit einer großen Schere unsere Karten für die Lebensmittel beschnitt.

Nur einmal wurde die Freude unserer Familie an dem Hühnerstall, an den Hühnern und an der Selbstversorgung mit Eiern erheblich getrübt. 1941 musste Vater, ein Anhänger der verbotenen Sozialdemokratie, Soldat werden, im zweiundvierzigsten Lebensjahr. Mutter weinte wieder oft und Vater sprach vom Kriegsgericht und standrechtlicher Erschießung, wenn er nicht pünktlich am Bahnhof sein würde. Er traf dort eine halbe Stunde vor der befohlenen Zeit ein und durfte anschließend kostenfrei mit der Bahn fahren, ein paar Monate später sogar bis nach Russland.

Kurz vor seiner Abreise war er sehr nervös und reagierte gereizt auch auf banale Ereignisse, über die er sonst gelacht hätte. Das bekam Fritz zu spüren, eine Krähe, die ich im Winter vorher gefangen hatte und die wegen einiger gestutzter Federn an den Flügeln mit den Hühnern im großen Auslauf lebte. Fritz balgte sich eines Tages mit ihnen um den Inhalt des Weichfutternapfes. Es entstand ein wirres Knäuel von hackenden Schnäbeln, schlagenden Flügeln und kratzenden Beinen, dazu ein so großes Spektakel von Rufen und Schreien, dass Vater schlichtend eingriff, mit einem Knüppel. Dabei starb zuerst unsere beste Lagehenne und anschließend auch Fritz. Ich begrub meinen Vogel und weinte über Vaters Tat. Auch Mutter weinte, sehr heftig, als sie das Huhn rupfte, und etwas weniger, als sie daraus Suppe für zwei Tage kochte.

Im nächsten Jahr aber hatten wir einen Hahn und eine 'Klucke'. Die brütete viele Küken aus, zehn oder zwölf. Davon wollten wir vier behalten. Einige Nachbarinnen kamen zu Mutter und hatten Zucker, Würste oder Speck als Tauschwaren in ihren Schürzen. Mutter packte das meiste in Pakete mit Feldpostnummern. Vater sollte sich auch in Russland über unsere Hühner freuen.

 



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Alle Rechte nun bei der Erbengemeinschaft
von Ewald Fleer, 32130 Enger